Auf einen Augenblick
Gedanken eines Trauerredners
Ich habe den schönsten Beruf der Welt – ich bin Trauerredner.
Ich habe Zeit. Der Luxus, ein Leben zu durchdenken, in es einzutauchen, Schlüsse zu ziehen und wieder zu verwerfen, abzuwägen, auszuloten und um Begriffe zu ringen, die, am Ende des Tages doch nur ein Versuch sind, ist unbezahlbar. Es ist vergleichbar mit der Kindheit, in der wir mit dem Terminus „Zeit“ nichts anfangen konnten. Alles war – nichts verging und die Geborgenheit einzelner Momente waren uns vertraut, so sehr, dass sie in der Erinnerung, je älter wir wurden, sich zunehmend als einziger Sinn unseres Seins herauskristallisieren. So wie ein Resonanzboden, hart, ergebnisoffen und ohne Bedeutung. Durch unsere Zeit im Leben, welches erst durch Begegnungen und Ereignisse jenen Klang und eine Richtung bekommt, die fortwährend wechseln zu können in uns brodelt, bei Licht besehen wie eine fixe Idee, sicher die stärkste von allen und nicht die einzige Illusion in unserer Lebenszeit ist und bleibt.
Ich darf also resümieren, stellvertretend bilanzieren und was das Schönste für mich an diesem Beruf ist: für einen Augenblick die Zeit anhalten, wie den überhitzen Atem eines zunehmend heterogenen Getöse von Atemlosen.
Atemlos durch die Nacht – am Tage nehmen wir das schon gar nicht mehr wahr, das Geröchel wird noch übertönt von Effizienzwahn und Funktionalismushygiene, aber warum eigentlich?
Ich weiß es nicht.
Für die Dauer einer halben Stunde darf ich also die Zeit anhalten, den Atem im gesagten Sinne aussetzen und Stille moderieren, in dieser Gesellschaft.
Stille moderieren, vielleicht sogar evozieren, sicher darf ich das, aber nur im Wissen um die Grenzen meiner Funktion. Ich bin leiser geworden, nach 20 Jahren Trauerreden, demütig vielleicht, einsichtig in jedem Fall. Einsichtig deshalb, weil die wichtigste, wirkungsvollste und edelste Aufgabe im Resonanzprinzip nicht an erster Stelle durch den Klang selbst erklärt wird, sondern durch die Stille „an sich“ als Voraussetzung für Klang. Zuhören – verstehen – begleiten.
Übertragt sich dieses sakrale Momentum auf mein Gegenüber, das Auditorium, einsteht eine Resonanzachse außerhalb von Zeit und Raum. Ein Stück Kindheit im Hier und Jetzt, im Gestern und Morgen im Du und Ich. Wahrscheinlich ist eine Trauerfeier das letzte, unverhandelbare Stück Gemeinschaft, das dem Merkmal „Öffentlichkeit“ verpflichtet bleibt. Es ist kostbar. Die gesellschaftliche Akzeptanz desselben, zu großen Teilen gar die Wahrnehmung aber verhält sich genau umgekehrt. Diametral negativ, im Großen und Ganzen um jeden Preis zu vermeiden.
Warum eigentlich?
Dem Ansatz einer negativen Emotion wie Traurigkeit schenke ich nur teilweise Glauben, in Wirklichkeit ist es die Stille, die vermieden wird.
O Traurigkeit, o Herzeleid – so heißt es im alten deutschen Choral, als es die Gemeinschaft im Glauben noch gab. Die Kirchen und ihre Würdenträger haben sich tragischerweise sukzessive selbst zur Garnitur einer wohlfeilen Dienstleistung degradiert, die sich am Dreiklang
Taufe – Hochzeit – Beerdigung
festmachen lässt. Selbst das Ritual der Bestattung, Jahrhunderte lang integraler Bestandteil eines jeden Gemeindelebens erklärt sich nicht mehr allein durch das Tun, die Praxis. Ich könnte es sicher auch nicht besser, als Einzelkämpfer schon gar nicht, aber jene Freiheit, den Ist – Zustand einmal klar und deutlich in Worte zu fassen, sehe ich schon christologisch als geboten an. Vielleicht kann ich dazu beitragen, Neues entstehen zu lassen, vielleicht auch nicht – Eines aber ist mit klar: es geht sicher nur über den Wirkungsgrad von Inhalt und Form.
Die Einheit von Inhalt und Form transportiert nicht nur eine kreativ – künstlerische Intention, nein, sie gibt uns vor allem Halt, Stille, die Konzentration und Gemeinschaft in diesem Sinne zu finden und nicht nur zu „suchen“. Ist es nicht eine besondere Form von Sucht, fortwährend auf die Resonanz Anderer angewiesen zu sein und ein Fehler, unspektakulär der Stille auf einem Friedhof zu begegnen? Einem Einzelton gleich, die Stille in einem kosmischen Sinne, außerhalb von Zeit und Raum, zu begreifen?
Ich weiß auch das nicht zweifelsfrei, aber für mich selbst lässt sich feststellen, dass ich letztlich nicht anders kann. Dem frühen Tod meiner Zwillingsschwester, im Alter von vier Monaten, gedankt oder geschuldet, wurde ich recht früh konditioniert, Stille auf Friedhöfen immer wieder neu zu finden. So abgehoben, wie es jetzt klingt, war es nie und wird es hoffentlich auch niemals sein, denn letztlich sind es die Menschen, die diesen Platz, momentan noch ohne Videoüberwachung und Datenerhebung, beleben. Vor einigen Jahren hat mich ein Feature, eine Langzeitdoku (Leben auf dem Friedhof; Galileo )im Fernsehen so in ihren Bann gezogen, dass mich Interviews und einzelne Bilder daraus bis heute begleiten. Liebevoll portraitiert und behutsam beobachtet bleibt es als eine Antwort auf die Frage, wie es weitergehen könnte, mit der Stille, den Formen von Erinnerungskultur in naher Zukunft. Beim Versuch, mit dem Autor in Kontakt zu treten, stieß ich – traurigerweise – nur auf seine Todesanzeige im Internet, er starb unerwartet mit 46 Jahren.
Ich habe also den schönsten Beruf der Welt. Wie ich die Stille suchte und in ihr Räume von Erinnerung fand und sie nun, „qua Amt“ moderieren darf, in mehr oder weniger heilsamen Dosen und öffentlich platziere, dazu im Folgenden einige Worte…
Das Vertrauen meiner Kunden legitimiert mich dazu immer wieder neu, immer wieder anders und doch – für mich persönlich – in einem Flow der Zeit und Raum, der Zeit und Raum vergessen macht und mich dadurch mit meiner Kindheit vereint, wie Nichts anderes auf der Welt. Ich möchte Sie einladen zuzuhören, Funktionalem und sozial Erwünschtem eine Generalpause zu erteilen und neugierig zu sein auf das, was in der Stille für mich nur ein Äquivalent besitzt, dem Wesen und Klang einer geteilten Erinnerung.
Der schönste Beruf dieser Welt lehrte mich, zuzuhören, die eigene Perspektive auszublenden und feine unsichtbare Fäden von Resonanz entstehen zu lassen, so, dass sie nicht nur mein, sondern auch andere Leben bereichern. Sie bleiben bestehen, wachsen zu festen Tauen heran, auf denen es sich balancieren und festhalten lässt und die, so meine kindlich – naive Annahme, uns alle irgendwann einmal hinaustragen aus dem, was wir als Gegenwart miteinander zu teilen versuchen.
Dieses Suchen hat viele Gesichter, Farben und Formen, jeden Alters und sozialer Stellung und kommt häufig erst in einer Trauerfeier – in aller Form von öffentlicher Reduktion, zum Stillstand. Nicht selten als trauriger Höhepunkt einer individuellen Verelendung oder eines Suizids.
Woher soll aber soll denn auch die Energie kommen, zu suchen, was uns zwischen Atemlosigkeit und Stille täglich begegnet? Ich lade Sie ein, der Form einer Trauerfeier, einer Beerdigung neu zu begegnen, ergebnisoffen und demütig zugleich, einem Nekrolog unter anderen Vorzeichen zuzuhören als dem der Tradition, der sozialen Erwünschtheit und – im Idealfall – auf den Schutz der eigenen Kindheit zu stoßen, welche, in der Stille, auch dem Alleinsein eine nie versiegende Quelle des Glückes und der Gemütsruhe ist (Schopenhauer). Gehen Sie zu Trauerfeiern und teilen Sie allein durch Ihre Anwesenheit das Unaussprechliche, finden Sie in der Gemeinschaft dadurch Ruhe und Frieden. Behalten Sie in der Option, Friedhöfe zu besuchen einen unsichtbaren, wertvollen Begleiter an Ihrer Hand, der als Panic Room des digitalen Zeitalters heute wichtiger ist, als Sie vielleicht glauben. Als Trauerredner und Bestatter begegne ich Ihnen in genau dieser Intention, die sich in meinem Innern als Resonanz mit anderen Klängen zu vereinen sucht.
April 2022
Stefan Bohle.